Patanjalis Yoga-Sutras sind ein grundlegender Text der klassischen Yoga-Philosophie. Es handelt sich um eine Sammlung von 196 Aphorismen (Sutras), die die Theorie und Praxis des Yoga beschreiben. Das Werk wird traditionell dem Weisen Patanjali zugeschrieben und gilt als maßgeblicher Leitfaden für den Raja-Yoga (den königlichen Pfad der Meditation und Selbstdisziplin). Die Yoga-Sutras bieten einen systematischen Weg zur spirituellen Befreiung (Moksha) durch mentale Disziplin und Selbsterkenntnis.
Herkunft und historischer Kontext
Die Yoga-Sutras wurden vermutlich zwischen 200 v. Chr. und 400 n. Chr. zusammengestellt. Während Patanjali als Autor gilt, bleibt seine historische Identität ungewiss. Einige Gelehrte vermuten, dass er bereits existierende mündliche Traditionen und philosophische Systeme zusammenfasste, insbesondere aus der Samkhya-Philosophie und buddhistischen Meditationspraktiken. Die Yoga-Sutras beeinflussten später Hindu-, buddhistische und Jain-Traditionen und prägten deren kontemplative Praktiken.
Struktur der Yoga-Sutras
Die Yoga-Sutras sind in vier Kapitel (Padas) unterteilt:
1. Samadhi Pada (Über die Kontemplation) 51 Sutras
Dieses Kapitel definiert Yoga und beschreibt die verschiedenen Stadien der mentalen Versenkung (Samadhi). Es behandelt die Natur des Geistes und die Rolle von Vairagya (Loslösung) und Abhyasa (beständiges Üben) als die beiden Grundpfeiler der yogischen Disziplin.
Wichtige Konzepte:
Arten von Samadhi:
-
- Savikalpa Samadhi (Meditation mit Objektfokus):
- Vitarka (grob-stoffliche Absorption)
- Vicara (feinstoffliche Absorption)
- Ananda (glückselige Absorption)
- Asmita (Ego-Transzendenz)
- Nirvikalpa Samadhi (objektlose reine Bewusstheit)
- Savikalpa Samadhi (Meditation mit Objektfokus):
Die fünf Kleshas (Ursachen des Leidens):
-
- Avidya – Unwissenheit oder falsche Wahrnehmung der Realität
- Asmita – Egoismus oder falsche Identifikation mit dem Körper-Geist-Komplex
- Raga – Anhaftung an Vergnügen
- Dvesha – Abneigung gegen Schmerz
- Abhinivesha – Angst vor dem Tod und tiefsitzende Lebensklammerung
Ishvarapranidhana (Hingabe an das Höchste):
-
- Die Anerkennung eines höheren Bewusstseins (Ishvara), das als Hilfe zur Selbsterkenntnis dienen kann.
Die neun Hindernisse (Antarāyas) auf dem Yoga-Weg:
-
- Vyadhi – Krankheit oder körperliches Leiden
- Styana – Geistige Trägheit oder mangelnde Begeisterung
- Samshaya – Zweifel oder Unentschlossenheit
- Pramada – Fahrlässigkeit oder Unachtsamkeit
- Alasya – Faulheit oder Lethargie
- Avirati – Übermäßige Sinnesverhaftung
- Bhranti-darshana – Fehlwahrnehmung oder falsches Verständnis
- Alabdha-bhumikatva – Unfähigkeit, im Fortschritt der Meditation voranzukommen
- Anavasthitatva – Unbeständigkeit oder Verlust eines bereits erreichten meditativen Zustands
Die vier Bhavanas (Geisteshaltungen für innere Klarheit):
-
- Maitrī – Freundlichkeit gegenüber glücklichen Menschen
- Karunā – Mitgefühl gegenüber Leidenden
- Muditā – Freude über die Tugendhaften und Erfolgreichen
- Upekṣā – Gleichmut gegenüber Unmoralischen und Schwierigen
Diese Praktiken helfen, den Geist zu klären und negative Emotionen zu überwinden.
2. Sadhana Pada (Über die Praxis) 55 Sutras
Dieses Kapitel behandelt die praktischen Aspekte des Yoga, insbesondere den Achtgliedrigen Pfad (Ashtanga-Yoga).
Die Acht Glieder des Yoga (Ashtanga-Yoga):
-
- Yama (Ethische Prinzipien) – Richtlinien für moralisches Verhalten:
- Ahimsa (Gewaltlosigkeit)
- Satya (Wahrhaftigkeit)
- Asteya (Nicht-Stehlen)
- Brahmacharya (Maßhalten)
- Aparigraha (Nicht-Anhaften)
- Niyama (Innere Disziplinen) – Persönliche Regeln für spirituelles Wachstum:
- Shaucha (Reinheit)
- Santosha (Zufriedenheit)
- Tapas (Disziplin)
- Svadhyaya (Selbststudium)
- Ishvarapranidhana (Hingabe an das Göttliche)
- Asana (Körperhaltungen) – Stabilität und Leichtigkeit in Sitzhaltungen für die Meditation
- Pranayama (Atemkontrolle) – Regulierung der Lebensenergie (Prana)
- Pratyahara (Rückzug der Sinne) – Ablösung von äußeren Ablenkungen
- Dharana (Konzentration) – Einpünktige Fokussierung
- Dhyana (Meditation) – Ununterbrochene Kontemplation
- Samadhi (Vollkommene Versenkung) – Einheit mit dem Absoluten
- Yama (Ethische Prinzipien) – Richtlinien für moralisches Verhalten:
3. Vibhuti Pada (Über spirituelle Kräfte und Errungenschaften) 55-56 Sutras
Samyama (Integration von Dharana, Dhyana, Samadhi) führt zu tiefem Wissen.
Siddhis (Übernatürliche Kräfte):
-
- Vibhuti (Manifestationen wie Hellsehen, Telepathie, Unsichtbarkeit)
- Aisvarya (göttliche Fähigkeiten über die Elemente)
- Anima, Mahima, Laghima, Garima (sich winzig machen, groß, leicht oder schwer werden)
Gefahren der Siddhis:
-
- Patanjali warnt davor, sich von übernatürlichen Kräften ablenken zu lassen.
4. Kaivalya Pada (Über die Befreiung) 34 Sutras
- Das Ego als Illusion – Die Erkenntnis, dass das Selbst (Ahamkara) nur eine geistige Konstruktion ist.
- Purusha & Prakriti – Das wahre Selbst (reines Bewusstsein) vs. die materielle Welt.
- Kaivalya (Befreiung):
- Wenn die Gedankenfluktuationen (Chitta-Vrittis) aufhören, ruht das Selbst in seiner wahren Natur.
- Dharma-Megha-Samadhi – Der höchste Zustand der Transzendenz.
Fazit
Die Yoga-Sutras von Patanjali sind eines der bedeutendsten Werke über Yoga und Spiritualität. Sie bieten eine systematische Anleitung zur Selbstdisziplin, Meditation und inneren Transformation. Ihr Einfluss reicht über Jahrtausende und sie dienen bis heute als Wegweiser zur Selbsterkenntnis und Befreiung.
Arten von Samadhi
Arten von Samadhi (meditative Versenkung) laut Patanjali
1. Samprajnata Samadhi (Mit Erkenntnis / Mit Form)
Auch Savikalpa Samadhi genannt, ist dies eine Art von Samadhi, bei dem noch mentale Aktivitäten vorhanden sind. Der Geist bleibt aktiv, aber konzentriert sich auf subtile oder grobe Objekte.
Er wird weiter in vier Stufen unterteilt:
- Vitarka Anugata Samadhi (Meditation mit grober Analyse)
- Der Geist konzentriert sich auf grobstoffliche Objekte (z. B. ein Mantra, einen Gott, eine Idee).
- Noch Gedankenaktivität vorhanden.
- Vicara Anugata Samadhi (Meditation mit subtiler Analyse)
- Konzentration auf feinstoffliche Aspekte wie Energieflüsse, kosmische Prinzipien oder subtile Formen von Wissen.
- Geistige Klarheit nimmt zu.
- Ananda Anugata Samadhi (Meditation mit Glückseligkeit)
- Der Geist ruht in einem Zustand tiefer Freude und innerer Glückseligkeit.
- Keine bewusste Analyse mehr, sondern nur noch das Erleben von Wonne.
- Asmita Anugata Samadhi (Meditation mit reinem “Ich-Bewusstsein”)
- Das Ego löst sich auf, aber es bleibt ein feines Gefühl des reinen Seins (Asmita).
- Man erkennt sich selbst als reines Bewusstsein, aber noch nicht völlig formlos.
2. Asamprajnata Samadhi (Ohne Erkenntnis / Ohne Form)
Auch Nirvikalpa Samadhi genannt, ist dies eine tiefere und vollständig transzendente Form von Samadhi.
- Keine Gedanken, keine Objektwahrnehmung mehr.
- Der Geist löst sich vollständig auf, es bleibt nur reines, formloses Bewusstsein.
- Wird oft als der höchste Zustand beschrieben, in dem nur noch das reine Selbst (Purusha) bleibt.
- Dies ist die Voraussetzung für endgültige Befreiung (Kaivalya).
Höchster Samadhi: Dharma-Megha-Samadhi
- Wird in Kaivalya Pada (dem 4. Kapitel) erwähnt.
- Bedeutet „Samadhi wie eine Wolke der Tugend“ und ist der Zustand, in dem der Yogi völlig über Karma, Leid und das Universum hinausgeht.
- Führt direkt zur endgültigen Befreiung (Kaivalya).
Ashtanga System (8-Glied Yogapfad)
Die Acht Glieder des Yoga (Ashtanga-Yoga)
1. Yama (Ethische Disziplinen)
Universelle moralische Gebote zur Reinigung des Verhaltens:
- Ahimsa – Gewaltlosigkeit in Gedanken, Worten und Taten.
- Satya – Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit.
- Asteya – Nicht-Stehlen, sowohl physisch als auch mental.
- Brahmacharya – Mäßigung und Kontrolle der Begierden.
- Aparigraha – Nicht-Besitzergreifen und Nicht-Anhaften.
2. Niyama (Innere Disziplinen)
Persönliche Regeln für spirituelles Wachstum:
- Shaucha – Reinheit, sowohl körperlich als auch geistig.
- Santosha – Zufriedenheit mit dem, was ist.
- Tapas – Selbstdisziplin, Askese und Ausdauer.
- Svadhyaya – Selbststudium und Studium heiliger Schriften.
- Ishvarapranidhana – Hingabe an den göttlichen Willen.
3. Asana (Körperhaltungen)
Entwicklung von Stabilität (sthira) und Leichtigkeit (sukha) in Sitzhaltungen zur Vorbereitung auf die Meditation.
4. Pranayama (Atemkontrolle)
Techniken zur Regulierung der Lebensenergie (Prana):
- Puraka – Einatmung.
- Rechaka – Ausatmung.
- Kumbhaka – Atemanhalten.
5. Pratyahara (Rückzug der Sinne)
Ablösung von äußeren Ablenkungen zur Vertiefung der inneren Wahrnehmung.
6. Dharana (Konzentration)
Einpünktige Fokussierung (Ekagrata), die zu tieferer Versenkung führt.
7. Dhyana (Meditation)
Ununterbrochene Kontemplation.
8. Samadhi (Absorption)
Höchste Einheit mit dem Absoluten.
Kleshas
-
Die Kleshas sind die Grundursachen des Leidens, die den Geist trüben und den Menschen an das Rad der Wiedergeburten (Samsara) binden:
- Avidya (Unwissenheit) – Falsche Wahrnehmung der Realität oder fehlendes wahres Wissen über das Selbst.
- Asmita (Egoismus) – Falsche Identifikation mit dem Körper-Geist-Komplex und das Gefühl eines getrennten Ichs.
- Raga (Anhaftung an Vergnügen) – Die zwanghafte Sehnsucht nach angenehmen Erfahrungen.
- Dvesha (Abneigung gegen Schmerz) – Die starke Ablehnung oder Vermeidung von unangenehmen Erfahrungen.
- Abhinivesha (Angst vor dem Tod) – Die tief verwurzelte Angst vor dem Sterben und der instinktive Drang, am Leben festzuhalten.
Diese fünf Hindernisse beeinflussen unser Denken, unsere Emotionen und unser Handeln und müssen durch Bewusstsein, Achtsamkeit und yogische Praxis überwunden werden.
Antarayas
Die Antarāyas (Hindernisse auf dem Yoga-Weg)
In Kapitel 1 (Samadhi Pada) der Yoga-Sutras beschreibt Patanjali in Sutra 1.30 neun Hindernisse (Antarāyas), die den geistigen Fortschritt behindern:
- Vyadhi (Krankheit) – Körperliche Beschwerden oder Erkrankungen, die die Praxis erschweren.
- Styana (Geistige Trägheit) – Mangelnde Begeisterung oder Antriebslosigkeit.
- Samshaya (Zweifel) – Unentschlossenheit oder Misstrauen gegenüber dem Weg.
- Pramada (Unachtsamkeit) – Nachlässigkeit oder Sorglosigkeit im spirituellen Streben.
- Alasya (Faulheit) – Trägheit, Mangel an Willenskraft und Energie.
- Avirati (Sinnesverhaftung) – Übermäßige Hingabe an weltliche Vergnügen.
- Bhranti-Darshana (Fehlwahrnehmung) – Illusion oder falsches Verständnis der Realität.
- Alabdha-Bhumikatva (Unfähigkeit zum Fortschritt) – Schwierigkeit, höhere meditative Zustände zu erreichen.
- Anavasthitatva (Instabilität) – Unfähigkeit, erreichte Fortschritte dauerhaft zu halten.
Nach diesen Hindernissen beschreibt Sutra 1.31 die Symptome geistiger Ablenkung (Vikṣepa), darunter:
- Schmerz
- Depression
- Unruhe
- Unregelmäßige Atmung
Patanjali gibt auch Lösungen für diese Hindernisse:
- Sutra 1.32 empfiehlt Ekatattva-Abhyasa (Einpünktige Konzentration), um den Geist zu stabilisieren.
Die 4 Bhavanas
Die Bhāvanās
(Geisteshaltungen zur Reinigung des Geistes)
In Sutra 1.33 des Samadhi Pada beschreibt Patanjali vier Geisteshaltungen (Bhāvanās), die helfen, den Geist zu klären und emotionale Störungen zu vermeiden:
- Maitrī (Freundlichkeit & Liebevolle Güte) – Gegenüber glücklichen Menschen.
- Karunā (Mitgefühl) – Gegenüber Leidenden.
- Muditā (Freude & Wohlwollen) – Gegenüber Tugendhaften und Erfolgreichen.
- Upekṣā (Gleichmut & Nicht-Urteilen) – Gegenüber Nicht-Tugendhaften oder schwierigen Personen.
Diese vier Einstellungen helfen, den inneren Frieden zu bewahren und negative Emotionen zu vermeiden.
Wer sie kultiviert, beruhigt den Geist, überwindet innere Unruhe und schafft die optimale Grundlage für tiefe Meditation.